Entschädigung für permanente unzulässige Überwachung am Arbeitsplatz

Ein neueres Urteil des Landesarbeitsgericht Hamm gibt dem Arbeitgeberverband Osthessen e.V. Anlass, die Grenzen zulässiger Videoüberwachung am Arbeitsplatz und die Rechte von Arbeitnehmern und Pflichten von Arbeitgebern genauer zu beleuchten. Dazu spricht der AGV-Geschäftsführer Manfred Baumann Empfehlungen für die betriebliche Praxis aus.

„Im dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt wurde ein Arbeitnehmer in einem Stahlbetrieb über 22 Monate lang praktisch ununterbrochen per Video überwacht – 34 HD-Kameras zeichneten rund um die Uhr fast jeden Winkel der Werkshalle auf, inklusive des Arbeitsplatzes. Dies geschah trotz ausdrücklichen Widerspruchs des Mitarbeiters.“ Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm hat in seinem Urteil vom 28.05.2025 (entschieden, dass diese Dauerüberwachung einen schweren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellt und dem Arbeitnehmer eine Geldentschädigung von 15.000 € zusteht.

Als Jurist bewertet Baumann dies wie folgt: „Das LAG Hamm bestätigte im Ergebnis die Entscheidung des Arbeitsgerichts Dortmund und sah in der umfassenden Videoüberwachung eine rechtswidrige Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Klägers.  Die Arbeitgeberin konnte sich auf keine tragfähige Rechtsgrundlage für die umfangreiche Überwachung berufen.“

  • Nicht-öffentliches Betriebsgelände: Die Halle war für die Allgemeinheit nicht zugänglich, daher griff die Sonderregelung des § 4 BDSG (Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume) hier nicht. Es galten strenge Maßstäbe des Datenschutzes, da hauptsächlich Arbeitnehmer beobachtet wurden.
  • Keine gültige Einwilligung: Zwar enthielt der Arbeitsvertrag eine Klausel, wonach der Mitarbeiter der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten „im Rahmen der Zweckbestimmung des Arbeitsverhältnisses […] unter Beachtung der Datenschutzvorschriften“ zustimme. Doch diese pauschale Zustimmung genügte nicht – sie war weder freiwillig noch hinreichend transparent, also unwirksam.
  • Keine sonstige Rechtfertigung nach DSGVO: Auch Art. 6 DSGVO bot keine Grundlage. Insbesondere lag kein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers vor, dass die massive, flächen-deckende Überwachung aller Arbeitsbereiche verhältnismäßig machen könnte. Die Firma hatte die Kameras mit Gründen wie Diebstahlprävention, Unfallauswertung, Maschinenausfällen und Qualitätssicherung begründet. Das Gericht stellte jedoch klar, dass mildere Mittel ausgereicht hätten – etwa gezielte Kameras an Ein- und Ausgängen oder in wirklich gefährdeten Zonen, anstatt jede Bewegung aller Mitarbeiter auf Schritt und Tritt zu filmen. Dokumentierte Verdachtsfälle gab es keine: Weder konkrete Diebstähle durch Belegschaft noch andere Straftaten eines Mitarbeiters hatten die Totalüberwachung gerechtfertigt. Allgemeine Sicherheitsbedenken (etwa, weil auf einem Nachbargrundstück Diebstähle vorkamen) genügen nicht, um einen derart intensiven Eingriff in die Privatsphäre der Arbeitnehmer zu legitimieren. Auch für Arbeitssicherheit und Produktionskontrolle wären punktuelle Maßnahmen ausreichend und zumutbar gewesen. Die permanente Aufzeichnung aller Vorgänge überschritt klar das notwendige Maß.

„Die Videoüberwachung verstieß gegen die Datenschutzregelungen (BDSG und DSGVO) und damit gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Klägers. Der Eingriff war rechtswidrig, da keine Einwilligung und kein überwiegendes berechtigtes Interesse des Arbeitgebers vorlagen.  Neben der Unterlassung (die hier mangels fortbestehenden Arbeitsverhältnisses letztlich entfiel) ging es vor allem um eine immaterielle Entschädigung. Das Gericht bejahte einen Anspruch auf Schmerzensgeld. Allerdings setzen die Gerichte dafür eine schwerwiegende Verletzung voraus.“

Im vorliegenden Fall sah das LAG diese Schwelle eindeutig überschritten und begründete die Höhe von 15.000 € wie folgt:

  • Extrem lange Dauer und lückenlose Überwachung: Der Arbeitnehmer wurde über fast zwei Jahre (Jan. 2023 bis Okt. 2024) an jedem Arbeitstag permanent beobachtet. Außerhalb der Pausen- und Umkleideräume gab es keinen unbeobachteten Bereich. Eine so andauernde Kontrolle ist beispiellos und weit intensiver als in früheren Fällen, in denen Gerichte deutlich geringere Entschädigungen zugesprochen hatten (z.B. 2.000 € für 8 Monate Kameras in einer Tankstelle, 4.000 € für 20 Monate punktuelle Überwachung oder 7.000 € für 3 Monate Dauerbeobachtung). Hier jedoch waren Umfang und Zeitraum der Überwachung deutlich gravierender.

  • Hohe technische Intensität: Die 34 Kameras filmten in HD-Qualität und ermöglichten per Zoom sogar das Erkennen von Gesichtern und Mimiken der Mitarbeiter. Außerdem konnten die Bilder live mitverfolgt werden. Diese Kombination aus flächendeckender Aufzeichnung und ständiger Live-Auswertungsmöglichkeit steigerte den Überwachungsdruck enorm.

  • „Extrem hoher Anpassungsdruck“: Durch die allgegenwärtigen Kameras fühlte sich der Kläger einem ständigen Kontrolldruck ausgesetzt. Jede Bewegung – selbst der Gang zum WC oder in den Pausenraum – war potenziell nachvollziehbar. Das LAG betonte, dass diese Situation einen „extrem hohen Anpassungsdruck“ auf den Arbeitnehmer erzeugte, ständig auf Sicht des Arbeitgebers zu funktionieren. Ein solches Arbeitsklima beeinträchtigt die freie Entfaltung der Persönlichkeit am Arbeitsplatz massiv.

  • Missachtung des Widerspruchs und Vorsatz: Besonders schwer wog, dass der Arbeitnehmer wiederholt seinen Unmut äußerte und sogar rechtlich dagegen vorging. Bereits 2023 hatte er per Vergleich Auskunft über die Kameras erzwungen und im Dezember 2023 die Einstellung der Überwachung gefordert. Trotz dieses Widerspruchs lief die Überwachung unverändert weiter. Das Gericht stellte fest, dass die Arbeitgeberin wissentlich und willentlich gehandelt hat – also vorsätzlich. Sie ignorierte nicht nur die Datenschutzvorgaben, sondern auch die klar geäußerten Beschwerden des Betroffenen. Zudem gab es keine Anzeichen, dass der Betrieb das Vorgehen für legal hielt oder sich datenschutzrechtlich beraten ließ – im Gegenteil, man setzte sich eklatant über die Regeln hinweg.

  • Angemessene Höhe der Entschädigung: Angesichts dieser Umstände – Dauer, Intensität, Technik, Vorsatz – und unter Berücksichtigung der allgemeinen Wertentwicklung hielt das LAG 15.000 € für angemessen und erforderlich, um den erlittenen immateriellen Schaden auszugleichen. Die Summe soll auch den Präventionsgedanken erfüllen: Arbeitgeber sollen abgeschreckt werden, in vergleichbarer Weise die Privatsphäre ihrer Beschäftigten zu verletzen.

Zusammengefasst betonte das Gericht, dass eine „permanente unzulässige Überwachung nahezu der gesamten Betriebsräume und des Arbeitsplatzes über 22 Monate trotz Widerspruchs des Arbeitnehmers“ einen besonders schweren Eingriff darstellt, der eine empfindliche Geldentschädigung rechtfertigt.

Praktische Hinweise für die betriebliche Praxis

Für Arbeitgeber enthält dieses Urteil eine deutliche Botschaft. Videoüberwachung im Betrieb ist nur in engen Grenzen zulässig. Folgende Punkte sollten Arbeitgeber beachten, um rechtliche Fallstricke und Kostenrisiken zu vermeiden:

  1. Die Notwendigkeit ist konkret zu prüfen – im Zweifel verzichten: Geht es um Diebstahlschutz, Sicherheit oder Prozesskontrolle? Gibt es hierfür konkrete Vorfälle oder zumindest ein erhöhtes Risiko? Ohne greifbaren Anlass ist eine personenbezogene Dauerüberwachung kaum zu rechtfertigen. Kameras sollten nicht als Disziplinarmaßnahme zur Leistungskontrolle eingesetzt werden – das wäre unzulässig. Wenn das Schutzgut (z.B. teure Maschinen oder Gefahrensituationen) auch durch mildere Mittel geschützt werden kann (Schließfächer, Stichproben, Sicherheitsdienste, Zugangskontrollen), hat das Vorrang vor einer ständigen Videoaufzeichnung.
  2. Datenschutzrechtlich sauber vorgehen: Art. 6 DSGVO verlangt eine Rechtsgrundlage für jede Datenverarbeitung. Im Beschäftigtenkontext kommt praktisch nur § 26 BDSG (beschäftigungsbezogen erforderlich) oder Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO (berechtigtes Interesse) in Betracht – jeweils gekoppelt mit einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die konkreten Entscheidungsgründe sollten schriftlich in einer Datenschutz-Folgenabschätzung, insbesondere bei umfangreicher Überwachung – dokumentiert werden. Der Datenschutzbeauftragte des Unternehmens sollte vor der Kamerainstallation einbezogen werden. Im vorliegenden Fall hat das Gericht betont, dass der Arbeitgeber sich in eklatanter Weise über Datenschutzvorgaben hinweggesetzt hat und offenbar keine fachkundige Beratung eingeholt hatte. Diese Versäumnisse wirkten sich erschwerend aus.
  3. Einwilligungen mit Vorsicht betrachten: Aufvideoüberwachung,video,aufnahme pauschale Einwilligungsklauseln im Arbeitsvertrag sollte man sich nicht verlassen. Diese sind – wie die Entscheidung zeigt – rechtlich unwirksam, da keine freiwillige Grundlage im hierarchischen Verhältnis besteht. Eine gültige Einwilligung müsste freiwillig, informiert und ausdrücklich sein und kann vom Mitarbeiter jederzeit widerrufen werden.
  4. Transparenz und Begrenzung: Falls eine Videoüberwachung gerechtfertigt ist (z.B. zur Verhinderung von Diebstählen in öffentlich zugänglichen Bereichen wie dem Kassenraum eines Geschäfts), dann sollte offen darüber kommuniziert werden, z.B. durch deutliche Hinweisschilder an und schriftliche Informationen der Mitarbeiter über Zweck, Umfang, Speicherfristen und Zuständigkeiten. Überwacht werden sollten nur die nötigen Bereiche (z.B. Eingangsbereich, Lager mit wertvollen Gütern) und die Aufnahmen nur kurz gespeichert werden (48 Stunden sind üblich, länger nur bei Vorfall). Pausenräume, Toiletten, Umkleiden und reine Arbeitsplätze ohne konkretes Risiko sind tabu. Je gezielter und eingeschränkter die Maßnahme, desto eher ist sie zulässig.
  5. Betriebsrat einbeziehen: Wenn es einen Betriebsrat gibt, ist die Mitbestimmung nach § 87 BetrVG zwingend. Dann sollte am besten in einer Betriebsvereinbarung Regeln zur Videoüberwachung, deren Zweck, Kamerastandorte, Auswertungsregeln und Löschfristen klar aufgestellt werden. Ohne Betriebsratszustimmung ist die Maßnahme in der Regel rechtswidrig – der Betriebsrat kann per einstweiliger Verfügung sogar den Betrieb der Kameras untersagen.
  6. Regelmäßige Überprüfung und Anpassung: Überwachungskonzepte sollten dynamisch gehandhabt werden. Dies beinhaltet eine regelmäßige Prüfung, ob die Gründe noch bestehen oder sich alternative Lösungen anbieten. Im geschilderten Fall hatte der Arbeitgeber zwar angekündigt, das Konzept überarbeiten zu wollen, aber bis zum Ende der Beschäftigung des Klägers keine Änderungen umgesetzt. Solche Untätigkeit trotz Kritik kann vor Gericht negativ ausgelegt werden.

Risiken bei Verstößen: Neben möglichen Schmerzensgeldzahlungen an Betroffene (in schweren Fällen fünfstellig, wie hier 15.000 €) drohen auch aufsichtsrechtliche Bußgelder nach der DSGVO. Zudem leidet das Betriebsklima und Vertrauen der Belegschaft massiv, wenn Mitarbeiter sich ungerechtfertigt überwacht fühlen – was langfristig die Arbeitsleistung und Motivation beeinträchtigen kann. Kurz gesagt: Überwachung mit Augenmaß betreiben und Datenschutz als Führungsthema aufgreifen.