07 Dez Arbeitszeiterfassung: Rechtslage nach Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Dass der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung vom 13. September 2022 weiterhin erhebliche Unruhe in den Unternehmen auslöst und zu großer Unsicherheit in der betrieblichen Praxis führt, hebt Arbeitgeberverband Osthessen e.V. hervor. Dabei gehe es auch um die Frage, was im Einzelfall konkret als Arbeitszeit wie etwa Rufbereitschaft, Dienstreise oder Wegezeit zu werten sei. AGV-Geschäftsführer Manfred Baumann erläutert: „Die damalige Pressemitteilung des BAG zu seinem Beschluss zur Arbeitszeiterfassung hat deshalb nicht nur in der Öffentlichkeit und der Fachwelt eine große Resonanz erfahren. Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat angekündigt, zeitnah nach Vorliegen des Beschlusses des BAG einen Referentenentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes herauszugeben, der auch konkrete Regelungen zur Arbeitszeiterfassung enthalten soll. Gleichwohl hat sein Ministerium bereits zwei Wochen nach Herausgabe der Pressemitteilung des BAG auf seiner Website aktuelle Praxishinweise unter den so genannten FAQs eingestellt, wie die Unternehmen die Entscheidung des BAG aktuell in die Praxis umsetzen sollen.“
Nachfolgend werden Bedeutung und Rechtsqualität der FAQs dargestellt und dazu kritisch Stellung bezogen:
I. Hinweis des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Arbeitszeiterfassung
Das BAG hatte sich im Rahmen eines von einem Betriebsrat initiierten Beschlussverfahrens zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems im Betrieb veranlasst gesehen, sich in einem sogenannten „obiter dictum“ zu der Frage zu äußern, ob es für Arbeitgeber eine generelle gesetzliche Verpflichtung gebe, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu erfassen. Das BAG führt in der Pressemitteilung hierzu aus, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet sind, ein „System“ zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Bei der Vorschrift des § 3 ArbSchG handelt es sich aber lediglich um eine allgemeine Rahmenvorschrift, der keine konkrete Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit zu entnehmen ist, da sich die Vorschrift nicht ausdrücklich auf die Arbeitszeiterfassung bezieht. Die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung hat der Gesetzgeber zudem im Arbeitszeitgesetz spezialgesetzlich in § 16 Abs. 2 ArbZG abschließend geregelt. Danach trifft die Arbeitgeber eine Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit ihrer Beschäftigten nur für die Fälle der Überschreitung der werktäglichen Arbeitszeit von 8 Stunden nach § 3 S. 1 ArbZG. Die in der Pressemitteilung herangezogene Begründung für eine vermeintliche allgemeine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ist deshalb nicht nachzuvollziehen und bedarf einer kritischen Würdigung.
Allerdings lagen bei Verfassung dieser Anmerkungen die Beschlussgründe zu der Entscheidung des BAG noch nicht vor. Nach Arbeitgeberauffassung scheint die Begründung des BAG in der veröffentlichten Pressemitteilung zur Arbeitszeiterfassung nicht plausibel und auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten angreifbar zu sein.
II. Hinweise zum Umgang mit den FAQs des BMAS zur Arbeitszeiterfassung
1. Rechtsnatur und Rechtswirkungen von sog. FAQs
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat sich erstaunlicherweise veranlasst gesehen, bereits zum jetzigen Zeitpunkt allgemeine Hinweise zu den Konsequenzen der Entscheidung herauszugeben, obgleich die Beschlussgründe der Entscheidung noch nicht vorliegen.
Auf der Basis eines sog. Hintergrundvermerks stellte das BMAS am 26. September 2022 allgemeine Hinweise in Form von FAQs auf seiner Homepage zur Verfügung.
Diese Vorgehensweise des BMAS überrascht nicht nur deshalb, weil die Beschlussgründe der Entscheidung des BAG vom 13. September 2022 noch gar nicht veröffentlicht waren. Sie ist auch deshalb ungewöhnlich, weil das BMAS auf diese Art und Weise offenbar für einen kurzen Übergangszeitraum Empfehlungen aussprechen will, die weder dem Willen des BAG – „mangels Kenntnis“ der noch nicht veröffentlichten Beschlussgründe – noch den Willen des Gesetzgebers hinreichend wiedergeben können. Im Koalitionsvertrag hatten sich die Regierungsparteien darauf verständigt, Teile des Arbeitszeitgesetzes zu ändern. Welche konkreten gesetzlichen Regelungen der Bundestag zur (ggf. auch elektronischen) Arbeitszeiterfassung schafft, ist derzeit nicht zu prognostizieren. Allerdings ist damit zu rechnen, dass die Regierungsparteien entweder noch in diesem Quartal oder im ersten Quartal des nächsten Jahres einen Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes herausgeben werden.
Das BMAS setzt dagegen mit dem von ihm herausgegebenen FAQ-Papier kein Recht. Es handelt sich bei den FAQs weder um gesetzliche Regelungen noch um eine bei der Auslegung des Gesetzes zu berücksichtigende Gesetzesbegründung. Es handelt sich bei ihnen vielmehr nur um allgemeine Hinweise der Exekutive, die lediglich die Rechtsansicht des BMAS wiedergeben. Ihr Inhalt ist für die Unternehmen deshalb rechtsunverbindlich.
2. Kritik an der Vorgehensweise des BMAS
Es fragt sich, warum das BMAS bei dieser Ausgangslage zum jetzigen Zeitpunkt derart umfassende Hinweise zu einer Thematik herausgegeben hat, die der Gesetzgeber zeitnah gesetzlich neu regeln will. Eine Notwendigkeit bestand hierfür nicht, zumal der Inhalt und die Reichweite der Entscheidung des BAG erst nach der Veröffentlichung des vollständigen Beschlusses hinreichend beurteilt werden können. Zudem hat selbst der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil erklärt, dass das Arbeitszeitgesetz zeitnah überarbeitet werde und sein Ministerium hierzu einen Referentenentwurf vorlegen werde, der auch Regelungen zur Arbeitszeiterfassung enthalte.
3. Inhaltliche Kritik an einzelnen Punkten in den FAQs des BMAS
In seinen FAQs äußert sich das BMAS dahingehend, dass infolge der Entscheidung des BAG „auch in Deutschland die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzuzeichnen ist“ (Antwort auf Frage 7 in den FAQs). Diese Aussage ist nicht nur unpräzise, sondern inhaltlich unzutreffend. Nach § 16 Abs. 2 ArbZG besteht derzeit nur eine partielle Aufzeichnungspflicht für Arbeitgeber.
Eine allgemeine Aufzeichnungspflicht ergibt sich selbst aus dem Beschluss des BAG nicht. Abgesehen davon, dass die Beschlussgründe noch nicht vorliegen und der Beschluss – wie bereits ausgeführt – keine Bindungswirkung für nicht am Verfahren beteiligte Arbeitgeber entfaltet, ist der Pressemitteilung auch nur zu entnehmen, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet sein sollen, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Hieraus ist weder eine verbindliche Aussage zu entnehmen, auf welche Art und Weise (z. B. ausschließlich elektronisch oder ggf. auch händisch) noch in welchem Umfang eine Arbeitszeiterfassung zu erfolgen hat. Schließlich bleibt unklar, ob noch Ausnahmen möglich sind (ggf. für Vertrauensarbeitszeit). Des Weiteren ist auch ungeklärt, ob Arbeitgeber die Zeiterfassung selbst vornehmen müssen oder auf ihre Beschäftigten delegieren können (z. B. bei Außendiensttätigkeiten, bei mobiler Arbeit oder bei Tätigkeiten im Homeoffice). Dass diese Möglichkeit nach wie vor besteht, erkennt das BMAS immerhin in seinen FAQs ausdrücklich an (Antwort auf Fragen 12 und 13 in den FAQs).
Gleichwohl ist festzuhalten, dass das BMAS seine FAQs nicht mit der gebotenen Sorgfalt erstellt und völlig übereilt veröffentlicht hat. Die FAQs sind in Teilen inhaltlich irreführend.
III. Hinweise zur aktuellen Rechtslage zur Arbeitszeiterfassung
Soweit das BMAS in seinen FAQs von unmittelbarer allgemeiner Geltung des BAG-Beschlusses ausgeht, teilen wird diese Auffassung ausdrücklich nicht. Ein wesentliches Argument hierfür ist, dass der Beschluss lediglich eine Rechtswirkung für die am Verfahren beteiligten Parteien erzeugt. Das BMAS ignoriert zudem, dass neben der abschließenden spezialgesetzlichen Regelung des § 16 Abs. 2 ArbZG kein Raum für eine allgemeine Aufzeichnungspflicht für Arbeitgeber besteht.
Unternehmen, die bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Regelung zur Arbeitszeiterfassung die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten nur gemäß § 16 Abs. 2 ArbZG aufzeichnen, müssen auch nicht mit der Verhängung eines Bußgelds rechnen, da sie nicht gegen die Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes verstoßen haben. Ein solcher Verstoß gegen das Arbeitsschutzgesetz ist mangels einschlägiger Sanktionsvorschrift ebenfalls nicht bußgeldbewehrt.
Allerdings könnte die zuständige Arbeitsschutzbehörde im Einzelfall von Arbeitgebern oder von den verantwortlichen Personen die zur Durchführung ihrer Überwachungsaufgabe erforderlichen Auskünfte und die Überlassung von entsprechenden Unterlagen verlangen (§ 22 Abs. 1 S. 1 ArbSchG) und bei fortgesetzter Weigerung die Erfüllung einer etwaigen behördlichen Anordnung einfordern (§ 22 Abs. 3 S. 1 ArbSchG). Derzeit bestehen aber keine Anzeichen dafür, dass die Arbeitsschutzbehörden kurzfristig solche Maßnahmen flächendeckend anordnen.
Abschließend betont dazu Manfred Baumann: „Mithin sind nach unserer Ansicht Arbeitgeber aktuell nicht gehalten, ihre bisherige Systematik zur Arbeitszeiterfassung aufzugeben. Sie müssen kurzfristig deshalb auch keine elektronischen Arbeitszeiterfassungssysteme anschaffen. Andererseits ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber in den kommenden Monaten gesetzliche Regelungen zur Arbeitszeiterfassung ‚auf den Weg bringen‘ wird. Wir werden uns in Abstimmung mit unseren Bundesverbänden für die Schaffung von praxisgerechten und flexiblen Regelungen im Arbeitszeitgesetz einsetzen, die den Interessen der Arbeitgeber und der Beschäftigten hinreichend Rechnung tragen.“