Verstöße gegen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie

Nach Erfahrungen des Arbeitgeberverbandes Osthessen e.V. gibt es in der betrieblichen Praxis immer wieder Zweifel an der Ordnungsgemäßheit von ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Das zeigen auch verschiedene gerichtliche Entscheidungen auf. Nun hat das Bundesarbeitsgericht in einer neuen, jetzt veröffentlichten Entscheidung für mehr Klarheit gesorgt .  

AGV-Geschäftsführer Manfred Baumann verdeutlicht: „Der Beweis, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist und deshalb keine Entgeltfortzahlung ohne Arbeitsleistung gezahlt werden muss, ist für Arbeitgeber schwer zu führen. Die Rechtsprechung sagt, dass die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ist. Es reicht allein die Vorlage einer solchen ärztlichen Bescheinigung aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu nehmen.“

Das BAG leite einen hohen Beweiswert der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab. „Ein Arbeitgeber kann folglich durch ein bloßes Bestreiten einen Arbeitnehmer nicht dazu „zwingen“, seine Arbeitsunfähigkeit auf andere Weise darzulegen und zu beweisen. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben. Erst wenn dies dem Arbeitgeber gelungen ist, muss der Arbeitnehmer versuchen, seine Arbeitsunfähigkeit auf andere Weise darzulegen und zu beweisen, um die beanspruchte Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu erhalten. “

Und weiter betont der Jurist, dass es vor diesem Hintergrund für die Praxis von Bedeutung sei, aufgrund welcher Tatsachen eine solche Erschütterung des Beweiswerts möglich ist. „In der soeben veröffentlichten Entscheidung nimmt das BAG zum ersten Mal dazu Stellung, ob auch ein Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-Richtlinie) des gemeinsamen Bundesausschusses, dem obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, zu einer solchen Erschütterung des Beweiswerts führen kann. Nach Ansicht des Gerichts sind insoweit zwar nicht alle Bestimmungen der AU-Richtlinie relevant. Formale Vorgaben, die in erster Linie kassenrechtliche Bedeutung haben und das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen, wie Formulare und Angaben für die Abrechnung sollen hierfür grundsätzlich ohne Bedeutung sein. Anders zu beurteilen sind hingegen nach Ansicht des BAG Regelungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen. “

Hierzu gehören insbesondere:

  • Die Notwendigkeit einer vorherigen ärztlichen Untersuchung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 AU-Richtlinie). Diese erfolgt nach § 4 Abs. 5 Satz 2 AU-Richtlinie unmittelbar persönlich oder mittelbar persönlich im Rahmen einer Videosprechstunde, für die in § 4 Abs. 5 AU-Richtlinie dann weitere strenge Anforderungen enthalten sind.
  • Das grundsätzliche Verbot, eine Arbeitsunfähigkeit für eine vor der ärztlichen Inanspruchnahme liegende Zeit zu bescheinigen (§ 5 Abs. 3 Satz 1 AU-Richtlinie). Eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden Tag ist ebenso wie eine rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise und nur nach gewissenhafter Prüfung und in der Regel nur bis zu drei Tagen zulässig.
  • Das Nichterscheinen eines Versicherten entgegen ärztlicher Aufforderung ohne triftigen Grund zum vereinbarten Folgetermin, so dass eine rückwirkende Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit versagt werden kann.
  • Die Beschränkung der Bescheinigung einer voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit auf höchstens zwei Wochen im Voraus (§ 5 Abs. 4 AU-Richtlinie). Nur wenn es aufgrund der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufs sachgerecht ist, kann die Arbeits-unfähigkeit bis zur voraussichtlichen Dauer von einem Monat bescheinigt werden.
  • Die Bescheinigung einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit auch für arbeitsfreie Tage, z.B. an Samstagen, Sonntagen, Feiertagen, Urlaubstagen oder an arbeitsfreien Tagen aufgrund einer flexiblen Arbeitszeitregelung (§ 5 Abs. 5 AU-Richtlinie).

Abschließend betont der AGV-Geschäftsführer: „Gelingt es einem Arbeitgeber, anhand der Vorgaben der AU-Richtlinie den Beweiswert zu erschüttern, muss der Arbeitnehmer wieder den vollen Beweis dafür erbringen, dass er tatsächlich während des bescheinigten Zeitraums arbeitsunfähig war, ohne sich auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung berufen zu können. Allerdings besteht für ihn insoweit die Möglichkeit, den Arzt, der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt hat, als Zeugen zu benennen.“

Für die Praxis besonders wichtig sei ein weiterer Aspekt: „Sieht ein Arbeitgeber den Beweiswert der ihm vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert an und will er deshalb keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zahlen, sollte er hiervon unverzüglich die Krankenkasse in Kenntnis setzen. Ansonsten wird die Krankenkasse Krankengeld zahlen, so dass dem Arbeitgeber – auch – mit der Krankenkasse gerichtliche Auseinandersetzungen drohen. Der Anspruch auf Krankengeld entsteht vom Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit an. Er ruht zwar soweit und solange Versicherte beitragspflichtiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erhalten. Dies geschieht aber gerade nicht, wenn der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verweigert, so dass ein Anspruch des Arbeitnehmers gegen die Krankenkasse entstehen könnte. Bei einer entsprechenden Mitteilung des Arbeitgebers wird diese aber nicht zahlen, da die sozial-gerichtliche Rechtsprechung bei der möglichen Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nahezu dieselben Maßstäbe ansetzt wie das BAG für die arbeitsrechtliche Betrachtung.“