16 Jan. Wie können Arbeitgeber mit Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung umgehen?
Inzwischen befinden sich die Krankheitszeiten der Arbeitnehmer in Deutschland auf Rekordniveau. Dabei , so erläutert AGV-Geschäftsführer Manfred Baumann, sei nicht jede der Krankmeldungen auch berechtigt. „Trotzdem galt die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) in der Vergangenheit als unumstößlich. Sobald der Arbeitnehmer mit dem „Gelben Schein“ winkte, musste der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung leisten. Diese quasi sakrosankte Stellung hat die AUB aber inzwischen auch in der Rechtsprechung eingebüßt. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von hilfreichen Einzelfallentscheidungen. Es gibt also inzwischen Möglichkeiten, als Arbeitgeber auf eine zweifelhafte Krankmeldung zu reagieren.“ Der Arbeitgeberverband Osthessen stellt die Möglichkeiten vor.
Ausgangspunkt: Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB)
Zunächst muss mit einem Mythos aufgeräumt werden: Eine AUB begründet nämlich keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit. Der Arbeitgeber muss also nicht das Gegenteil (die Arbeitsfähigkeit) beweisen. Der Arbeitnehmer beweist zwar zunächst seine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit in der Regel durch die Vorlage der AUB. Sie ist das gesetzlich dazu ausdrücklich vorgesehene und daher wichtigste Beweismittel. Einer ordnungsgemäß ausgestellten AUB kommt deshalb zwar grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Arbeitsgerichte sehen auch normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit zunächst als erbracht an, wenn der Arbeitnehmer eine AUB vorlegt.
Welche Reaktionsmöglichkeit hat dann der Arbeitgeber?
Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf beschränken, die Arbeitsunfähigkeit einfach nur zu bestreiten. Vielmehr muss er den Beweiswert der AUB erschüttern. Dazu muss er tatsächliche Umstände darlegen, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers wecken.
Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich aus den Äußerungen des Arbeitnehmers, aus der AUB selbst oder den Umständen der Krankmeldung ergeben.
An den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der AUB dürfen Gerichte aber keine überhöhten Anforderungen stellen. Sie müssen berücksichtigen, dass der Arbeitgeber nur über eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten verfügt. Allerdings reicht der pauschale Hinweis, bei der AUB handle es sich um ein Gefälligkeitsattest, nicht aus. Arbeitgeber, die an der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers zweifeln, sollten daher so viele und so konkrete Anhaltspunkte wie möglich für diese Zweifel zusammentragen. Bei ersten Anhaltspunkten, z.B. bei einem zeitlichen Zusammenhang zwischen einem unerfreulichen Personalgespräch und einer Krankmeldung, sollte weiter ermittelt werden. Wichtig sind Befragung von Vorgesetzten und Arbeitskollegen und eine ausführliche Dokumentation. Hat es in der Vergangenheit ähnliche Vorfälle gegeben, sollten Arbeitgeber diese in die Dokumentation einbeziehen.
Was passiert, wenn der Arbeitgeber den Beweiswert der AUB erschüttert hat?
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der AUB zu erschüttern, tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er ohne eine AUB bestehen würde:
Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf die Arbeitsunfähigkeit zulassen. Vom Arbeitgeber wird hingegen nicht verlangt, nachzuweisen, dass irgendeine Erkrankung im Zeitpunkt der erfolgten Ankündigung einer künftigen Krankmeldung überhaupt nicht vorgelegen haben kann.
Der Arbeitnehmer muss zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Er muss mitteilen, an welchen Krankheiten der Arbeitnehmer gelitten hat, welche gesundheitlichen Einschränkungen damit verbunden waren und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden.
Es reicht also nicht, wenn der Arbeitnehmer lediglich den behandelnden Arzt als Zeugen benennt und hofft, dieser bestätige die Arbeitsunfähigkeit. Es reicht auch nicht, wenn der Arbeitnehmer ärztliche Diagnosen offengelegt. Er muss konkrete gesundheitliche Einschränkungen, die diesen Diagnosen entsprechen, vortragen und deren Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit konkretisieren.
Es reicht weiter nicht, wenn der Arbeitnehmer vorträgt, bestimmte Beschwerden hätten sich nicht gebessert. Er muss vielmehr ausführen, welche Beschwerden genau in welcher Frequenz und Intensität bestanden.
Erst wenn der Arbeitnehmer insoweit seiner Darlegungslast nachgekommen ist und gegebenenfalls seine ihn behandelnden Ärzte von der Schweigeplicht entbunden hat, muss der Arbeitgeber dies wiederum entkräften.
Möglichkeiten zur Erschütterung des Beweiswerts der AUB
Welche Zweifel können den Beweiswert der AUB nun erschüttern?
Schon das Gesetz nennt in § 275 Abs. 1a SGB V Beispiele, wann Zweifel an der AUB angebracht sind:
- Der Arbeitnehmer ist auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig.
- Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit fällt häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche.
- Ein Arzt hat die Arbeitsunfähigkeit festgestellt, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Auch ein Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AUB-Richtlinie) kann Zweifel begründen. Diese legt fest, welche Regeln für die Feststellung und Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit von Versicherten durch Vertragsärzte gelten.
Denkbare Verstöße sind:
- Findet vom Arzt vor der Krankschreibung keine ausreichende Befragung zum konkreten Arbeitsplatz statt, ist der Beweiswert der AUB erschüttert. Da der Arbeitgeber bei der Befragung nicht anwesend war, kann er mit Nichtwissen bestreiten, dass diese stattgefunden hat. Der Arbeitnehmer muss dazu ausführen. Dieses gilt natürlich insbesondere, wenn die Feststellung der AU durch eine telefonische Kontaktaufnahme oder eine Videosprechstunde erfolgte. Ein Gespräch nur mit der Arzthelferin reicht natürlich nicht aus. Es muss ein zugelassener Arzt sein, der die AU feststellt.
- Auch bei einer rückdatierten AUB ist deren Beweiswert erschüttert. Die Arbeitsunfähigkeit soll für eine vor der ersten ärztlichen Inanspruchnahme liegende Zeit grundsätzlich nicht bescheinigt werden. Eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden Tag ist ebenso wie eine rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise und nur nach gewissenhafter Prüfung und in der Regel nur bis zu drei Tagen zulässig.
- Schließlich verstößt auch eine für mehr als zwei Wochen ausgestellte AUB gegen die AUB-Richtlinie: Die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit soll nicht für einen mehr als zwei Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden.
Arbeitsunfähigkeit nach (abgelehnten) Urlaubsantrag
Zweifel an dem Beweiswert der AUB ergeben sich, wenn diese für einen Zeitraum ausgestellt worden ist, für den der Arbeitnehmer zuvor erfolglos Urlaub begehrt hat. Das gilt auch dann, wenn der Konflikt über die Urlaubsgewährung mehrere Wochen zurückliegt.
Arbeitsunfähigkeit nach Kündigung
Viele Urteile der Arbeitsgerichte gibt es zu der leider schon typischen Situation, dass sich der Arbeitnehmer nach einer Kündigung krankmeldet:
- Wenn der Arbeitnehmer bei Übergabe des Kündigungsschreibens keine äußerlich erkennbaren Krankheitssymptome zeigt und eine besondere psychische Belastungssituation mit der Kündigungsübergabe nicht verbunden war, sind Zweifel an der AUB angebracht.
- Ein gegen den Beweiswert sprechender Umstand kann darin liegen, dass zwischen der festgestellten Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist ein zeitlicher Zusammenhang besteht. Diese Rechtsprechung zur sog. Zeitlichen Koinzidenz hat das BAG in zwei aktuellen Urteilen (5 AZR 248/23 und 5 AZR 29/24) bestätigt: Eine den Beweiswert erschütternde zeitliche Koinzidenz besteht, wenn der Arbeitnehmer einen später umgesetzten Kündigungsentschluss fasst, diesen – z.B. durch das Verfassen eines Kündigungsschreibens – manifestiert und im Anschluss daran Arbeitsunfähigkeits-bescheinigungen vorlegt. Es spielt keine Rolle, ob die Kündigung dem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Krankschreibung bereits zugegangen ist. Genauso unerheblich ist, ob dem Arbeitnehmer die Kündigung bereits zugegangen ist oder er nur Kenntnis einer drohenden Kündigung hat. Maßgeblich ist, dass der Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, zu dem feststeht, dass das Arbeitsverhältnis enden soll, arbeitsunfähig wird und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bleibt. Für die Erschütterung des Beweiswerts ist nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer die Kündigung und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung „zeitgleich“ übergibt. Liegt zwischen der Übergabe der Eigenkündigung nach Beendigung der Arbeit und dem Fernbleiben von der Arbeit nur das ohnehin arbeitsfreie Wochenende, besteht auch dann eine zeitliche Koinzidenz, die den Beweiswert erschüttert.
- Für die Beurteilung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Zusammenhang mit Kündigungen ist nicht entscheidend, ob für die Dauer der Kündigungsfrist eine oder mehrere Bescheinigungen vorgelegt werden.
- Endet die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit punktgenau mit dem Ablauf der Kündigungsfrist, ist deren Beweiswert in der Regel erschüttert.
Arbeitsunfähigkeit nach Problemen im Arbeitsverhältnis
Auch unabhängig von Kündigungen weckt ein zeitlicher Zusammenhang zwischen unliebsamen Weisungen, Abmahnungen oder problematischen Personalgesprächen und einer Krankmeldung Zweifel an der AUB.
Sport während der Arbeitsunfähigkeit
Was das Ausüben von Freizeitsport während der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit angeht, ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. In derartigen Fällen sollte angesichts der ungünstigen Beweissituation, in der der Arbeitgeber sich ohnehin befindet, nicht zu restriktiv entschieden werden. Zweifel sind aber angebracht, wenn der Arbeitnehmer wettkampfmäßig Sport betreibt – selbst, wenn es sich um Amateurniveau handelt – und keine Erläuterungen abgibt, weshalb seine Aktivitäten mit einer Arbeitsunfähigkeit vereinbar gewesen sein sollen.
Begutachtung durch den medizinischen Dienst der Krankenkasse nicht erforderlich
Der Beweiswert der AUB kann auch dann erschüttert werden, wenn der Arbeitgeber nicht von der Möglichkeit zur Begutachtung des Arbeitnehmers durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen Gebrauch gemacht hat. Nach § 275 Absatz 1a Satz 3 SGB V kann der Arbeitgeber verlangen, dass die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit einholt. Das Ausbleiben eines solchen Verlangens schließt aber eine gerichtliche Auseinandersetzung über den Beweiswert der AUB nicht aus.
Vorsicht beim Einsatz von Detektiven
Im Juli 2024 hatte das Bundesarbeitsgericht über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer wegen des Verdachts einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit durch eine Detektei überwachen ließ. Im konkreten Fall entschied das BAG, dass die Überwachung unzulässig, weil nicht erforderlich war, denn am Beweiswert der AUB bestanden keine Zweifel. Man könnte das Urteil so verstehen, als könnten Zweifel am Beweiswert einer AUB eine Überwachung durch einen Detektiv rechtfertigen. Das BAG hat diese Frage aber ausdrücklich offengelassen. Die Einschaltung von Betriebsfremden zur Überprüfung der AUB sollte daher nur in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden.
Abschließend betont der Jurist: „Blaumachen ist kein Kavaliersdelikt, sondern grundsätzlich ein strafbarer Betrug. Eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit kann deshalb eine Kündigung des Arbeitnehmers rechtfertigen. Durch berechtigte Zweifel an der AUB ist nicht der Nachweis erbracht, dass die AUB unberechtigt war. Für eine Kündigung muss der Arbeitgeber diesen Nachweis erbringen, was ihm nur ausnahmsweise gelingen wird. Empfehlenswert ist daher, bei Zweifeln an der AUB als wirksame Sanktion zunächst die Entgeltfortzahlung zu verweigern.“