06 Jun Bundesarbeitsgericht zur Darlegungslast bei Streit über Fortsetzungserkrankung
In der betrieblichen Praxis gibt es immer wieder Probleme bei der Frage, ob bei einer Fortsetzungserkrankung vom Arbeitgeber Entgeltfortzahlung zu leisten ist oder ob die Krankenkasse zur Zahlung von Krankengeld verpflichtet ist. Wie das Bundesarbeitsgericht in einer neuen, jetzt veröffentlichten Entscheidung für mehr Klarheit gesorgt hat, erläutert der Arbeitgeberverband Osthessen e.V..
Dazu führt der AGV-Geschäftsführer Manfred Baumann aus: „Grundsätzlich gilt bekanntlich, dass ein Arbeitnehmer, der durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit unverschuldet an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, vom Arbeitgeber Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für maximal sechs Wochen verlangen kann. Tritt eine erneute Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit auf, gibt es erst einmal keine weitere Entgeltfortzahlung mehr. Eine Ausnahme gilt, wenn der Arbeitnehmer vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war.“ Doch auch, so Baumann weiter, wenn (chronisch kranke) Arbeitnehmer die sechsmonatige Karenzzeit nicht überstehen, ohne wegen derselben Krankheit auszufallen, könnten sie wegen dieser (chronischen) Krankheit erneut Entgeltfortzahlung verlangen, wenn der Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit wegen dieser Krankheit mindestens zwölf Monate zurückliegt.
Der Jurist verdeutlicht: „Die Beweislast dafür, dass eine Arbeitsunfähigkeit durch dieselbe Krankheit bedingt ist, die schon einmal während der letzten sechs (oder zwölf) Monate zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt hat, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beim Arbeitgeber. Der Arbeitgeber kennt aber zunächst nur die ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die keine Angaben zu den Krankheiten bzw. Krankheitsursachen enthalten. Um überprüfen zu können, ob hinter einer (erneuten) Arbeitsunfähigkeit möglicherweise dieselbe Krankheit wie vor einigen Monaten bzw. dasselbe Grundleiden steht, braucht er daher Informationen durch den Arbeitnehmer bzw. die Krankenkasse.“ In seinem Urteil habe das Bundesarbeitsgericht nun die Frage geklärt, inwieweit dem Arbeitnehmer prozessuale Mitwirkungspflichten zukommen, damit der Arbeitgeber seiner Beweislast nachkommen könne. Es sei entschieden worden, dass Arbeitnehmer beim Streit über eine Fortsetzungserkrankung offenlegen müssen, welche Beschwerden welche Folgen für die Arbeitsfähigkeit hatten, und die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden. Dazu verdeutlicht ein Fall aus der Praxis das Prozedere:
Ein seit 2012 bei einem Flughafenunternehmen in der Gepäckabfertigung tätiger Arbeitnehmer war 2019 und 2020 immer wieder und insgesamt in erheblichem Umfang arbeitsunfähig erkrankt. Vom 24.08.2019 bis zum 30.12.2019 war er an 68 Kalendertagen erkrankt, und vom 01.01.2020 bis zum 18.08.2020 an 42 Kalendertagen. Der Arbeitgeber leistete Entgeltfortzahlung bis zum 13.08.2020 (Donnerstag). Wegen der Krankschreibungen, die der Arbeitnehmer für den 18.08.2020 (Dienstag) und für einige der folgenden Tage bis zum 23.09.2020 einreichte, verweigerte er die weitere Entgeltfortzahlung. Dabei ließ er sich nicht davon beeindrucken, dass es sich bei diesen Krankschreibungen teilweise um sog. Erstbescheinigungen handelte. Dies sind Krankschreibungen, mit denen ein Arzt – ohne Kenntnis möglicher früherer Krankschreibungen – den Patienten „erstmalig“ auf der Grundlage einer bestimmten Diagnose krankschreibt. Aus Sicht des Arbeitgebers beruhten die Krankschreibungen für die Zeit vom 18.08.2020 bis zum 23.09.2020 auf Fortsetzungserkrankungen. Die Krankenkasse bestätigte zwar auf Anfrage des Arbeitgebers, dass nach ihren Unterlagen die Erkrankung am 18. und 19.08.2023 in einem ursächlichen Zusammenhang mit früheren Erkrankungen gestanden hätte, meinte aber, dass der sechswöchige Anspruch auf Entgeltfortzahlung erst am 20.09.2020 geendet habe. Das Arbeitsgericht Frankfurt gab der Zahlungsklage des Arbeitnehmers statt (Urteil vom 09.06.2021, 14 Ca 9427/20), während das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG) sie auf die Berufung des Arbeitgebers hin abwies und die Revision zum BAG zuließ (Urteil vom 14.01.2022, 10 Sa 898/21). Nach Ansicht des LAG hätte der Kläger alle Krankheiten im Jahreszeitraum vom 24.08.2019 bis zum 23.08.2020 konkret („substantiiert“) beschreiben müssen, und er hätte seine Ärzte von der Schweigepflicht entbinden müssen. Das hatte er unter Verweis auf den Datenschutz nicht getan. Das BAG bestätigte dies und wies die Revision des Arbeitnehmers zurück: Ist ein Arbeitnehmer innerhalb von sechs Monaten (§ 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EFZG) oder – bei häufiger auftretenden Erkrankungen – innerhalb von zwölf Monaten (§ 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EFZG) insgesamt länger als sechs Wochen krank, gilt im Prozess um die Entgeltfortzahlung eine abgestufte Darlegungslast: Zunächst muss der Arbeitnehmer unter Vorlage ärztlicher Bescheinigungen vortragen, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Hält der Arbeitgeber trotzdem am Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung fest, hat der Arbeitnehmer nunmehr konkrete Tatsachen vorzutragen, die eine Fortsetzungserkrankung ausschließen. Er muss, so das BAG, laienhaft und unter Bezugnahme auf den gesamten Sechs- bzw. Zwölfmonatszeitraum seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden schildern und darlegen, welche Folgen sie auf die Arbeitsfähigkeit hatten, und seine Ärzte von der Schweigepflicht entbinden. Denn andernfalls kann der Arbeitgeber sich zu dem Sachverhalt nicht konkret äußern.
Eine so weitgehende, auf die Krankheitsursachen bezogene Vortragslast des Arbeitnehmers stellt zwar einen Eingriff in das Grundrecht des Arbeitnehmers auf informationelle Selbstbestimmung, das durch Art. 2 Abs. 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützt ist, und in sein Recht zum Schutz seiner Gesundheitsdaten gemäß Art. 9 Abs. 1 Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) dar, doch sind diese Eingriffe durch überwiegende rechtliche Gesichtspunkte gerechtfertigt. Diese liegen in der richtigen Ermittlung des Sachverhalts durch das Gericht und in den prozessualen Rechten des Arbeitgebers. Ohne eine Obliegenheit des Arbeitnehmers zur Schilderung seiner Krankheiten wäre ein faires gerichtliches Verfahren nicht möglich. Diese Ziele sind ebenfalls durch das GG vorgegeben, nämlich als Garantie eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), in Gestalt der Justizgewährungspflicht (Art. 2 Abs. 1 in Verb. mit Art. 20 Abs. 3 GG) sowie durch das Recht des Arbeitgebers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Mildere Mittel, um diese Ziele zu erreichen, gibt es nicht, so das BAG. Eine Auskunft der Krankenkasse gegenüber dem Arbeitgeber zum Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung gemäß § 69 Abs. 4 Halbsatz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist weder für den Arbeitgeber noch für das Arbeitsgericht rechtsverbindlich. Die prozessuale Obliegenheit zur Offenlegung von Gesundheitsdaten ist auch mit dem EU-Recht vereinbar, so das BAG. Denn Art. 9 Abs. 2 Buchstabe f DS-GVO erlaubt die Verarbeitung von Gesundheitsdaten, wenn dies zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen oder vor Gericht erforderlich ist.
Fazit des Juristen Manfred Baumann: „Dem BAG ist zuzustimmen. Die Arbeitsgerichte müssen prüfen können, ob die Pflicht zur Entgeltfortzahlung an einer Fortsetzungserkrankung scheitert. Dazu muss der Arbeitnehmer seine Gesundheitsdaten im Rahmen der abgestuften Darlegungslast offenlegen. Der Datenschutz steht dahinter zurück. Die Obliegenheit zur Schilderung der Krankheiten, die einer erneuten und die früheren Arbeits-unfähigkeiten zugrunde liegen, besteht auch nicht nur vor Gericht. Vielmehr kann der Arbeitgeber aufgrund vorangegangener Erkrankungen eine Fortsetzungserkrankung vermuten und die (erneute) Entgeltfortzahlung über insgesamt sechs Wochen hinaus verweigern. Auch dann ist die Verarbeitung von Gesundheitsdaten durch den Arbeitgeber auf der Grundlage des Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) zulässig. Es stimmt daher nicht, dass der Arbeitgeber Krankheitsursachen generell nicht erfahren dürfte.“ Auf der Grundlage des jetzt ergangenen Urteils hätten Arbeitgeber im Regelfall die noch weitergehende Möglichkeit, die Entgeltfortzahlung unter Hinweis auf eine mögliche Fortsetzungserkrankung zu verweigern, soweit der Arbeitnehmer während der zurückliegenden sechs Monate (insgesamt) länger als sechs Wochen krankheitsbedingt fehle.