29 Sep Aktuelle Rechtslage zur Arbeitszeiterfassung
Wie der Arbeitgeberverband Osthessen e.V. in einem Rundschreiben mitteilt, „bastele“ die Bundesregierung bekanntermaßen in Reaktion auf das CCOO-Urteil des schon länger an einer gesetzlichen Pflicht der Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung. Dazu erläutert AGV-Geschäftsführer Manfred Baumann: „Nun hat allerdings das Bundesarbeitsgericht mit einem Paukenschlag entschieden, dass Arbeitgeber bereits jetzt gesetzlich zur Schaffung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind.“ Diese Entscheidung, so Baumann, habe in den Unternehmen zu Unruhe geführt und in der Öffentlichkeit hohe Wellen geschlagen. „Zum Teil sind der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts und seine unmittelbaren Auswirkungen auf die Unternehmen und ihre Beschäftigten von Presse, Rundfunk, Fernsehen nicht zutreffend bzw. nur unvollständig wiedergegeben worden.“ Vor diesem Hintergrund gibt der Arbeitgeberverband Osthessen e.V. nachfolgend erste Hinweise zu den Folgen der Entscheidung für die Praxis. Dabei sei jedoch zu berücksichtigen, dass mangels Vorliegens der Entscheidungsgründe derzeit noch keine abschließende juristische Bewertung erfolgen könne, welche konkreten Auswirkungen diese Entscheidung – insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Vertrauensarbeitszeitvereinbarungen – haben wird.
I. Damit die Auswirkungen der Entscheidung für Sie transparent werden, möchten wir Sie kurz über den der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt informieren:
Der antragstellende Betriebsrat und die Arbeitgeberinnen, die eine vollstationäre Wohneinrichtung als gemeinsamen Betrieb unterhalten, schlossen im Jahr 2018 eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Zeitgleich verhandelten sie über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. Eine Einigung hierüber kam nicht zustande.
Auf Antrag des Betriebsrats setzte das Arbeitsgericht eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Nachdem die Arbeitgeberinnen deren Zuständigkeit gerügt hatten, leitete der Betriebsrat das vorliegende Beschlussverfahren ein. Er begehrt die Feststellung, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht.
Das Landesarbeitsgericht Hamm (Beschluss v. 27.07.2021 – 7 TaBV 79/20) gab dem Antrag des Betriebsrats statt. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberinnen hatte vor dem BAG Erfolg. Das BAG führt gemäß seiner bisher nur vorliegenden Pressemitteilung zur Begründung aus:
Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Bei unionsrechts konformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sei der Arbeitgeber nach Ansicht des BAG gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließt damit ein – ggf. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.
II. Erste Bewertung der Entscheidung
Zunächst bedarf es einer Analyse, welche unmittelbaren Rechtswirkungen der Beschluss des BAG auslöst.
1. Mit seiner Entscheidung machte das BAG deutlich, dass es auf die Frage eines Initiativrechts des Betriebsrats gar nicht ankomme. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bestehe nämlich überhaupt nur dann, wenn es keine gesetzliche Regelung gebe. Eine solche gesetzliche Regelung gebe nach Auffassung des BAG aber bereits: § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) sehe vor, dass Arbeitgeber zur Sicherung des Gesundheitsschutzes „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“ habe.
Das umfasse auch die Messung und Erfassung der Arbeitszeit, so das BAG. Damit wies das BAG zwar den Antrag des Betriebsrats zurück und gab dem Arbeitgeber insoweit Recht. Das dürfte sich aber im Ergebnis als ein Scheinsieg für den Arbeitgeber herausstellen. Denn die Konsequenzen dieser Sichtweise erscheinen bei erster Bewertung ungleich gravierender.
2. Was mit einer Streitigkeit um Beteiligungsrechte begann und damit nur die Reichweite des Normenkatalogs der Mitbestimmungsrechte des Betriebsverfassungsgesetzes betroffen hätte, hat durch den Paukenschlag aus Erfurt nunmehr eine völlig andere Dimension bekommen: Das Arbeitsschutzgesetz gilt für alle Betriebe in Deutschland, gleich, ob ein Betriebsrat besteht oder nicht. Damit sind nach der Lesart des BAG alle Unternehmen, gleich welcher Größe, verpflichtet, die Arbeitszeit künftig zu erfassen.
Die Pflicht zur Einführung eines Systems zur allumfassenden Arbeitszeiterfassung und damit das einhergehende Ende der Vertrauensarbeitszeit zeichnen sich nun nicht mehr als Ergebnis eines Gesetzgebungsverfahrens als denkbares Ende ab, sondern sind – ohne Umsetzungsfrist – durch die gestrige Entscheidung Realität geworden. Ob und welche Freiheiten das BAG Unternehmen zubilligt, kann der allein vorliegenden Pressemitteilung des Gerichts nicht entnommen werden. Dort lautet es lediglich, dass der Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet ist, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.
III. Folgende Gesichtspunkte sind insoweit bei der weiteren Bewertung der Entscheidung von Bedeutung:
– Der Beschluss des BAG ist nach unserer Kenntnis noch nicht rechtskräftig. Die für eine abschließende Bewertung maßgeblichen Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor.
– Bei dem Beschluss handelt es sich zudem um eine Entscheidung, die in erster Linie das Kollektivrecht betrifft (kein Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung von elektronischen Arbeitszeiterfassungssystemen).
– In dem anhängigen Verfahren hatte das BAG nicht darüber zu entscheiden, ob Arbeitgeber gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen, wenn sie bisher keine Zeiterfassung im Betrieb eingeführt haben.
– In der Pressemitteilung trifft das BAG keinerlei Aussagen zur konkreten Durchführung und Art der Arbeitszeiterfassung (elektronische bzw. digitale, händische Zeiterfassung, etc.).
– Das BAG schließt in der Pressemitteilung ebenfalls nicht die Möglichkeit für die Unternehmen aus, die Arbeitszeiterfassung auf Beschäftigte zu übertragen.
– Der Beschluss des BAG vom 13. September 2022 erzeugt für die Unternehmen keine unmittelbare Rechtsbindung, da er keine materielle Rechtskraft für andere Unternehmen entfalten kann.
– Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass einzelne Arbeitsschutzbehörden aufgrund des Beschlusses des BAG zu der Auffassung gelangen, dass Arbeitgeber ab sofort alle Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten erfassen müssen.
IV. Mögliche weitere Auswirkungen der BAG-Entscheidung
Sofern Arbeitsschutzbehörden gegen Unternehmen, die noch nicht sämtliche Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten erfassen, Bußgelder verhängen, könnten diese sich gegen einen Bußgeldbescheid mit der Argumentation zu Wehr setzen, dass sich eine solche Verpflichtung nicht unmittelbar aus dem Arbeitszeitgesetz ergibt.
1. Nach unserer Auffassung hat das BAG im Wege einer vermeintlich notwendigen unionsrechts-konformen Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes rechtsfehlerhaft eine gesetzliche Verpflichtung der Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung angenommen, obgleich das Arbeitsschutzgesetz im Verhältnis zum Arbeitszeitgesetz nachrangig anzuwenden ist. Das Arbeitszeitgesetz enthält in § 16 ArbZG jedoch bereits eine abschließende Regelung zur Arbeitszeiterfassung, so dass keine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke vorliegt. Über die Rechtswirksamkeit eines Bußgeldbescheides müssten anschließend die Verwaltungsgerichte und in letzter Konsequenz das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Ob die angerufenen Gerichte die Auslegung noch als verfassungskonform bewerten, ist offen. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass im Falle seiner Einschaltung das Bundesverfassungsgericht eine Überschreitung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung annehmen und dem Bundesarbeitsgericht erneut entsprechende Grenzen aufzeigen wird (vgl. hierzu auch die Entscheidung des BVerfG vom 14.07.2018 – 1 BvR 3041/13, NZA 2018, 77 ff. zur Überdehnung der gesetzlichen Vorschrift des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG).
2. Zudem existiert keine Rechtsverordnung i.S.v. § 25 Abs. 1 Nr. 1 ArbSchG, gegen die die Unternehmen zuwidergehandelt haben könnten. Dies ist aber Voraussetzung für die Verhängung eines Bußgeldes nach § 25 Abs. 1 Nr. 1 ArbSchG.
3. Neben der Gefahr der Verhängung eines Bußgelds könnten für die Arbeitgeberseite in arbeitsgerichtlichen Verfahren weitere Rechtsnachteile drohen. Im Schrifttum wird nämlich zumindest partiell der Standpunkt vertreten, dass sich Arbeitgeber gegen Vergütungsforderungen von Beschäftigten nicht unter Berufung auf eine Ausschlussklausel verteidigen können, wenn sie die Arbeitszeit nicht aufgezeichnet haben. Diese Rechtsauffassung wird mit einem treuwidrigen Verhalten und einem Verstoß gegen § 242 BGB der Arbeitgeber begründet (Bayreuther, NZA 2020, 1 ff. unter Hinweis auf MHdb-ArbR/Schüren, 4. Aufl. 2018, § 44 Rn. 70 – zur Vertrauensarbeitszeit). Es ist nicht auszuschließen, dass einzelne Arbeitsgerichte diese Argumentation zukünftig übernehmen werden. Über diese Frage müsste erneut das Bundesarbeitsgericht und sodann in letzter Konsequenz ggf. das Bundesverfassungsgericht entscheiden.
V. Gesetzliche Änderungen im Arbeitszeitrecht – Ankündigungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS)
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) derzeit plant, das Arbeitszeitgesetz – auch in Bezug auf Regelungen zur Arbeitszeiterfassung – zu ändern. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat angekündigt, dass der Gesetzgeber eine Verpflichtung der Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz zur Umsetzung des EuGH – Urteils (EuGH vom 14.05.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683) unter Berücksichtigung der aktuellen Entscheidung des BAG vom 13. September 2022 gesetzlich normieren und hierzu zeitnah einen Gesetzesentwurf vorlegen wird.
Am 14. September 2022 erklärte Bundesarbeitsminister Heil gegenüber der Deutschen Presseagentur hierzu sinngemäß Folgendes:
„Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht um ihren Lohn betrogen werden, durch Manipulation bei der Arbeitszeit, aber wir müssen, wenn das Urteil uns Umsetzungsnotwendigkeiten in der Gesetzgebung mitbringt, auch darauf achten, dass die Umsetzung so unbürokratisch wie möglich stattfindet. Es gibt in Deutschland bereits Bereiche, in denen die Arbeitszeit registriert werde.“ „Das muss nicht immer die Stechkarte sein. Das kann auch eine digitale Lösung sein.“ Nun gehe es aber erst mal darum, das Grundsatzurteil zu prüfen und die Frage der Rechtsfolgen zu klären. Erst dann werde er Vorschläge unterbreiten.
Es bleibt deshalb nunmehr abzuwarten, welche konkreten gesetzlichen Regelungen das BMAS zur Arbeitszeiterfassung „in den kommenden Monaten auf den Weg“ bringen wird.
VI. Betriebliche Durchführung der Arbeitszeiterfassung – Hinweise an Beschäftigte
Auch wenn derzeit noch keine generelle gesetzliche Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeiten der Beschäftigten im Arbeitszeitgesetz besteht und auch unklar ist, auf welche Art und Weise die Zeiterfassung vorgenommen werden kann, sind aus unserer Sicht Unternehmen gut beraten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ab wann und auf welche Art und Weise sie zukünftig Arbeitszeiterfassungssysteme in ihren Betrieben implementieren wollen.
1. Voraussichtlich wird das BMAS in seinem Gesetzentwurf eine Regelung zu einer für die Unternehmen verpflichtenden elektronische Zeiterfassung vorsehen. Ob das BMAS hierzu (kostenfreie) Software zur Verfügung stellt oder überhaupt konkrete Empfehlungen oder Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung geben wird, ist derzeit nicht absehbar.
2. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Unternehmen jedoch noch nicht verpflichtet, ein elektronisches Zeiterfassungssystem einzuführen. Sie könnten den Beschäftigten aufgeben, ihre Arbeitszeit händisch zu erfassen. Allerdings ist es aus unserer Sicht unerlässlich, dass die Unternehmen bei Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems ihren Beschäftigten klare Hinweise geben, unter welchen Voraussetzungen sie ihre Arbeitszeiten „verbuchen“ können.
3. Bei Einführung eines Zeiterfassungssystems könnten die Beschäftigten ausdrücklich u. a. auf folgende Punkte hingewiesen werden:
– Beschäftigte können ihre Arbeitszeit nur dann händisch aufzeichnen oder sich im jeweiligen Zeiterfassungssystem ein- bzw. ausbuchen, wenn sie ihre Arbeitstätigkeit aufnehmen oder beenden.
– Zeiten, in denen Beschäftigte im Betrieb, im Homeoffice oder während der Ausübung von mobiler Arbeit keine Arbeitstätigkeit verrichten (z. B. Arbeitspausen wie etwa Kaffee- oder Raucherpausen) können nicht verbucht werden, es sei denn, es besteht eine gegenteilige individual- oder kollektivrechtliche Regelung.
– Beschäftigte sind verpflichtet, ihre Arbeitszeiten ordnungsgemäß aufzuzeichnen bzw. das Zeiterfassungssystem ordnungsgemäß und mit der gebotenen Sorgfalt zu nutzen. Etwaige Falschbuchungen oder Falschaufzeichnungen können arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Kündigung nach sich ziehen.
– Beschäftigte dürfen ihre Arbeitszeiten nur „einbuchen“, wenn sie zur Erbringung einer Arbeitsleistung verpflichtet sind und tatsächlich Arbeitsleistungen erbringen. Die entsprechende Verpflichtung zur Arbeit bzw. hierzu korrespondierend die Berechtigung zur Arbeitszeiteinbuchung ergibt sich aus den anwendbaren Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit bzw. den arbeitsvertraglichen Regelungen oder arbeitgeberseitigen Weisungen. Überstunden dürfen deshalb nur aufgrund anwendbarer betrieblicher Regelungen oder nach entsprechender Anordnung des zuständigen Vorgesetzten im Zeiterfassungssystem „gebucht“ werden.
– Fahrzeiten von der eigenen Wohnung zum Arbeitsort und zurück können nicht als Arbeitszeit verbucht werden, es sei denn, der Beschäftigte ist hierzu aufgrund individual- oder kollektivrechtlicher Regelung berechtigt.
– Die Einbuchung von Reisezeiten richtet sich nach den im Betrieb bestehenden Regelungen (TV, BV, Arbeitsvertrag etc.).
Abschließend betont Manfred Baumann, dass diese Hinweise von den Unternehmen an die Rahmenbedingungen und den Sprachgebrauch in ihren Betrieben angepasst werden und an die Beschäftigten vor Einführung eines Zeiterfassungssystems weitergegeben werden sollten.