Verfall von Urlaubsansprüchen – für die betriebliche Praxis von erheblicher Bedeutung

Wie der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Ossthessen e.V., Manfred Baumann, in seinem jüngsten Rundschreiben verdeutlicht, seien die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Bestand von Urlaubsansprüchen und deren Folgen der Urteile für die betriebliche Praxis von erheblicher Bedeutung. Daher werden die beiden gerichtlichen Entscheidungen genauer dargestellt.

1. Keine Verjährung eines Urlaubsanspruchs bei fehlendem Hinweis durch Arbeitgeber (EuGH, Urteil vom 22. September 2022 – C-120/21 -)

Der EuGH hat hier entschieden, dass Urlaubsansprüche nicht nach § 195 BGB verjähren, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht aufgefordert hat, noch bestehenden Urlaub zu nehmen und nicht darauf hingewiesen hat, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen werde.

Sachverhalt

Die Parteien haben über die Abgeltung von Urlaub gestritten. Die Klägerin war von November 1996 bis Juli 2017 bei dem Beklagten als Steuerfachangestellte beschäftigt. Sie hatte im Jahr Anspruch auf 24 Tage Urlaub. Mit Schreiben vom 1. März 2012 bescheinigte der Beklagte ihr einen Resturlaubsanspruch von 76 Tagen, der nicht Ende März verfallen werde, weil sie den Urlaub wegen des hohen Arbeitsaufwands nicht habe antreten können. Auch in den Folgejahren nahm die Klägerin ihren Urlaub nicht vollständig in Anspruch. Der Beklagte hat die Klägerin weder aufgefordert, weiteren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen werde. Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte die Klägerin Abgeltung von 101 Urlaubstagen. Der Beklagte berief sich auf Verjährung. Das Arbeitsgericht gab dem Antrag hinsichtlich drei Urlaubstagen für das Jahr 2017 statt, das LAG gab der Berufung hinsichtlich der Abgeltung für weitere 76 Urlaubstage statt. Auf die Revision hin setzte das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 29. September 2020 das Verfahren aus (Az. 9 AZR 266/20 (A). Es hat den EuGH um Entscheidung über die Frage gebeten, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf von drei Jahren verjährt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen. Der EuGH hat die Vorlagefrage bejaht.

Entscheidungsgründe

Zwar werde das Recht auf bezahlten Jahresurlaub durch die Verjährungsvorschrift von § 195 BGB nicht in seinem Wesensgehalt angetastet, sondern lediglich die Geltendmachung einer zeitlichen Begrenzung von drei Jahren unterworfen. Allerdings sei die Klägerin von ihrem Arbeitgeber nicht tatsächlich in die Lage versetzt worden, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben, beruft, um daraus im Rahmen der auf diesen Anspruch gestützten Klage des Arbeitnehmers einen Vorteil zu ziehen. Mit der Einrede der Verjährung könne sich der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten entziehen. Zusätzlich komme es ihm zugute, wenn der Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub verjähre. Der Arbeitgeber habe zwar ein berechtigtes Interesse daran, nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanzielle Vergütung konfrontiert zu werden, die auf mehr als drei Jahre alte Ansprüche gestützt werden. Dieses Interesse sei aber nicht mehr berechtigt, wenn er sich durch fehlende Hinweise selbst in eine Situation gebracht habe, in der er mit solchen Anträgen konfrontiert werde und aus der er zulasten des Arbeitnehmers Nutzen ziehen könne. Es sei Sache des Arbeitgebers, gegen späte Anträge wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch Vorkehrungen zu treffen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkomme.
In einer Bewertung des Sachverhaltes führt Manfred Baumann aus:Die Verjährung dient gerade nicht ausschließlich den Interessen des Schuldners, sondern ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit. Sie soll Rechtsfrieden und Rechtssicherheit schaffen. Diese Zwecke kann sie nur erfüllen, wenn sie der Geltendmachung von Ansprüchen eine zeitliche Grenze setzt, ohne dass auf weitere Umstände abzustellen ist. Die Hinweisobliegenheit des Arbeitgebers wird durch diese Entscheidung weiter erheblich verschärft. Es bleibt bei der Notwendigkeit auch im Fall von lange zurückliegenden Bezugszeiträumen auf den Urlaub hinzuweisen. Nicht entschieden ist über die Möglichkeit der Verwirkung, die neben einem Zeit- ein Umstandsmoment voraussetzt.“

2. Hinweispflicht des Arbeitgebers auf Urlaubsansprüche bei langandauernder Arbeitsunfähigkeit

(EuGH, Urteile vom 22. September 2022 – C 518/20 – und – C-727/20 -)

Der EuGH hat in zwei miteinander verbundenen Verfahren entschieden, dass den Arbeitgeber die Hinweispflicht auch für solche Urlaubsansprüche trifft, die der Arbeitnehmer in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist.

Sachverhalt

Der Kläger in der Sache C-518/20 ist bei der beklagten Fraport als Frachtfahrer beschäftigt. Er bezieht seit dem Dezember 2014 eine Rente wegen voller, aber nicht dauerhafter Erwerbsminderung, die zuletzt bis zum 31. August 2022 verlängert wurde. Er klagte auf Feststellung, dass ihm 34 Tage bezahlter Jahresurlaub aus dem Jahr 2014 zustehen, die er aufgrund seines Gesundheitszustands nicht habe in Anspruch nehmen können. Zudem sei die Beklagte ihrer Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen. Die Beklagte ist der Ansicht, der Urlaubsanspruch für 2014 sei aufgrund der vollen Erwerbsminderung nach Ablauf des Übertragungszeitraums von 15 Monaten Ende März 2016 verfallen. In einem verbundenen Fall (C-727/20) ist die Klägerin, Angestellte beim St. Vincenz-Krankenhaus, seit 2017 arbeitsunfähig erkrankt. Sie klagte auf 14 Tage nicht genommenen Urlaub aus dem Jahr 2017. Der Beklagte hatte sie weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder des Übertragungszeitraums verfallen kann. Die Vorinstanzen wiesen die Klagen jeweils ab, das Bundesarbeitsgericht setzte die Verfahren aus und legte dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor, die dieser zusammen geprüft hat. Der EuGH hatte die Frage zu beantworten, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf eine volle Erwerbsminderung oder eine Erwerbsunfähigkeit aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit eingetreten ist, entweder nach Ablauf eines gemäß nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben.

Entscheidungsgründe

Der EuGH beantwortet die Frage einschränkend für die vorgelegten Fälle dahingehend, dass europäisches Recht einem Verfall von Urlaubsansprüchen in Fällen entgegensteht, in denen der Arbeitnehmer den Anspruch in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben. Der EuGH bestätigt zunächst, dass unter den besonderen Umständen, dass ein Arbeitnehmer während mehrerer aufeinander folgender Bezugszeiträume arbeitsunfähig ist, mit Blick auf den Schutz des Arbeitgebers einzelstaatliche Rechtsvorschriften einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen können, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (EuGH-Urteil vom 22. November 2011, KHS, C-214/10). Allerdings sei vor dem automatischen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu prüfen, ob der Arbeitnehmer durch entsprechenden Hinweis des Arbeitgebers tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen. Der EuGH weist ausdrücklich darauf hin, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer in den Ausgangsverfahren darauf beschränken, die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub geltend zu machen, die sie für den Bezugszeitraum erworben haben, in dem sie zum Teil erwerbstätig und zum Teil vollerwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig waren. Insofern bestünde nicht die Gefahr der negativen Folgen einer unbeschränkten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub.

Der EuGH ergänzt, dass die zeitliche Begrenzung, die der Gerichtshof für zulässig erklärt habe, den Arbeitnehmer gewiss daran hindere, den Erhalt sämtlicher Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub einzufordern, die er während seiner längeren Abwesenheit vom Arbeitsplatz in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen erworben hat. Eine solche Beschränkung könne aber nicht auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub angewandt werden, der im Lauf eines Bezugszeitraums erworben wurde, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet habe, bevor er voll erwerbsgemindert oder arbeitsunfähig wurde, ohne dass geprüft wurde, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch geltend zu machen. Eine solche Situation liefe darauf hinaus, den Anspruch, der in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankert und in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 konkretisiert ist, inhaltlich auszuhöhlen.

Und auch zu diesem Urteil gibt AGV-Geschäftsführer Baumann eine Bewertung ab: „Durch einen frühzeitigen Hinweis zu Beginn eines Kalenderjahres auf die Notwendigkeit, den Urlaub zu nehmen, lässt sich der Eintritt der vom EuGH angenommenen Folgen für eine langfristige Urlaubsübertragung verhindern. Der EuGH erwähnt darüberhinausgehend zwar, dass eine zeitliche Begrenzung zur Ansammlung von Urlaubsansprüchen den Arbeitnehmer gewiss daran hindere, sämtliche Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub einzufordern, die er während einer längeren Abwesenheit in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen erworben hat (Rz. 45). Aus dem Zusammenhang geht allerdings nicht eindeutig hervor, dass für Fälle langer Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit generell keine Hinweisobliegenheit des Arbeitgebers für die Bezugszeiträume besteht, in denen der Arbeitnehmer keine Arbeitsleistung erbracht hat. Ob danach ein Hinweis an einen im gesamten Jahresverlauf erkrankten oder erwerbsunfähigen Arbeitnehmer erfolgen muss, bleibt vielmehr offen. Es kann sich daher anbieten, den Arbeitnehmer während einer langen Abwesenheit zu Beginn jedes Bezugszeitraums auf seinen Urlaub hinzuweisen.“

3. Praxistipps zum grundsätzlichen Umgang mit den Hinweispflichten

Für die betriebliche Praxis bietet sich folgendes Vorgehen an:

 • Zu Beginn des Jahres sollte durch ein Schreiben oder eine E-Mail ein Hinweis auf den jeweils bestehenden Urlaubsanspruch erfolgen, verbunden mit der Aufforderung, den Urlaubsanspruch durch Beantragung auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen und unter Hinweis auf die Verfallsfolgen bei Nichtbeantragung. Die Erklärung sollte vorsorglich auch auf etwaig übertragene Urlaubsansprüche des Vorjahres bezogen werden. Der Arbeitgeber trägt dabei die Beweislast für den Zugang der Mitteilung. Damit die notwendige Konkretheit vorliegt, sollte der jeweilige Urlaubsanspruch genau benannt werden. Dieser kann auch mit einem Verweis auf die Gehaltsabrechnung verbunden werden, aus der sich der jeweilige persönliche Urlaubsanspruch ergibt.

 • Mitarbeiter, die sich zu Beginn des Jahres in einer langfristigen Arbeitsunfähigkeitsphase befinden, sind, sofern Arbeitsfähigkeit vor Verfall der Urlaubsansprüche wieder eintritt, bei Rückkehr zu informieren.

 • Bei unterjährig neu eintretenden Mitarbeitern sollte der Hinweis zum Zeitpunkt des Eintritts erfolgen. In Ergänzung der Information zu Jahresbeginn sollte ein weiterer Prozess etwa im 3. Quartal eingeführt werden, mittels dessen Mitarbeiter, die zu diesem Zeitpunkt noch immer einen hohen Urlaubsanspruch haben und auch noch keinen längeren Urlaub beantragt haben, erneut auf einen möglichen Verfall hingewiesen werden. Erfolgt die Information im Rahmen eines Personalgesprächs, sollte dies durch einen entsprechenden Vermerk in der Personalakte festgehalten werden.

 • Scheiden Mitarbeiter während des laufenden Kalenderjahres aus dem Arbeitsverhältnis aus, ist es zweckmäßig, bei Bekanntwerden des Beendigungszeitpunktes eine verbindliche Regelung zur Urlaubsnahme zu treffen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Arbeitgeber die noch nicht in Anspruch genommenen Urlaubstage finanziell abgelten muss.